KUB 2023.04
Solange Pessoa
11 | 11 | 2023 – 04 | 02 | 2024
Im Erdgeschoss ist ein Video zu sehen. Es zeigt verflüssigte Bronze während der Aushärtung. Der Film ist großformatig auf die Betonwand im Kunsthaus Bregenz projiziert. Das Licht zirkelt die Form. Es ist eine Begegnung der Materialien – eine visuelle, taktile, akustische und räumliche Erfahrung.
Solange Pessoa stammt aus Minas Gerais in Brasilien. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Substanzen, der Einfachheit und dem Wirken der Dinge, die für sie in Beziehung zur Geschichte der Erde und der Menschheit stehen. Die Künstlerin rückt Prozesse – Zustände und Veränderung – in den Fokus und verleiht materiellen Energien Bedeutung. Ihr Blick zeugt von Achtsamkeit, Empfindsamkeit und Geduld. Das Schmelzen und Härten der Bronze wird zu einem ebenso bedeutsamen Thema wie die daraus entstehenden Skulpturen.
Im ersten Obergeschoss sind Säcke aus Jute zu sehen, die zusammengenäht wie hoch aufragende Wände von der Decke abgehängt sind. Die Säcke sind mit Erde gefüllt, manche weisen Verfärbungen auf. Pflanzen, Knochenteile und getrocknete Blüten sind zu sehen. Einige der Säcke enthalten Blätter mit Texten, historischen Darstellungen und Fotografien. „Es ist eine Art großes universelles Archiv, vielfältig und unendlich, das (physisch und symbolisch) dichte Materialitäten beherbergt und eine Verbindung zwischen Natur und Kultur herstellt“, erklärt die Künstlerin im Gespräch. Die Papiere zeigen Ausschnitte historischer Berichte über die portugiesische Kolonie Brasilien und ihre Beziehung zu Österreich seit dem frühen 19. Jahrhundert. Nach dem Wiener Kongress wurde die habsburgische Erzherzogin Leopoldine mit Kronprinz Pedro I. aus dem portugiesischen Königshaus Braganza verheiratet. Nach der Verheiratung 1817 startete eine österreichische Brasilien-Expedition: Zoolog*innen, Botaniker*innen und Mineralog*innen – auf der Suche nach Bodenschätzen – begaben sich nach Brasilien, darunter auch der Maler Thomas Ender. Sie erreichten das Land während einer politisch turbulenten Phase. Dom Pedro löste sich von Portugal und ließ sich 1822 zum Kaiser von Brasilien krönen. Thomas Enders Bilder spiegeln den exotisierenden Blick auf die fremde Kultur Brasiliens, auch die Erzherzogin malte Landschaft und Menschen. Aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Probleme wanderten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Österreicher*innen nach Brasilien aus. Einige erhaltene Fotografien zeigen verarmte Vorarlberger Familien, die sich einschiffen ließen und in Brasilien ihr Glück versuchten.
In vielen Werken fühlt sich Pessoa mit der Arte Povera verbunden, organische Materialien und Fundstücke finden Verwendung. Daneben stellen die gefüllten Jutesäcke auch einen Bezug zur Architektur ihrer Heimat her – dem brasilianischen Barock, der während der Kolonialzeit seine Hochphase erlebte. Pessoa spielt immer wieder auf den weißen, weichen Speckstein an, der damals im Kirchenbau eingesetzt und von Aleijadinho, dem bedeutendsten Baumeister und Bildhauer des brasilianischen Barock, verwendet wurde. Im Rahmen der letzten Biennale in Venedig legte Solange Pessoa behauene Specksteine in eine Wiese zwischen die Gebäude des Arsenale. In ihren Ausbuchtungen sammelten sich Blätter, Moose, und Regenwasser.
Im zweiten Obergeschoss sind Bronzeskulpturen zu sehen. Sie hängen als Reliefs an der Wand oder stehen ohne Sockel frei im Raum. Die klumpigen, schwarzen Objekte erinnern an amorphe Fundstücke, an Meteoriten oder gestockte Gebilde aus Lava. Manche sind mit Federn, Häuten, Haaren, Wolle oder Gras versehen. Seit 2012 arbeitet Solange Pessoa an dieser Installation, die den Titel Ó Ó Ó Ó trägt. Im Kunsthaus Bregenz ist sie nun erstmals in abgeschlossener Form ausgestellt. „Ich sehe in meiner Arbeit eine Art Rückkehr zum Amorphen, zur Schwerkraft traumähnlicher materieller Elemente und zu einer primitiven imaginären Natur, die sich auf Animismus, Kosmogenien, zeitliche Texturen und psychische Energieverbindungen bezieht“, erklärt Pessoa im Gespräch mit Liz Munsell.
Im obersten Stockwerk hängt in der Mitte des Raumes unter der lichten Decke eine großflächige Skulptur aus Federn mit dem Titel Miracéus. Die Federn stammen von verschiedenen Vögeln, wurden über Jahre hinweg gesammelt und zu einem dichten Teppich zusammengefügt. Im Zentrum der Installation befindet sich eine Art Tunnel, durch den man im Dunkeln nach oben blicken kann. An den Wänden werden Ölgemälde präsentiert, die organische Formen in einfachen Abstraktionen zeigen – dickleibige Striche in Schwarz auf mattfarbigem Grund. Sie erinnern an Abdrücke, prähistorische Sinnbilder oder magische Zeichen. „Ich denke, Miracéus ist so etwas wie eine Andachtsskulptur, mit einer kultischen, mythischen und rituellen Dimension“, so die Künstlerin.
Thomas D. Trummer
Solange Pessoa (*1961, Ferros, Brasilien) lebt in Belo Horizonte. Einzelausstellungen zeigte sie u. a. im Museu Mineiro, Belo Horizonte, im Centro Cultural São Paulo, im Ballroom Marfa, Texas sowie im Palais de Tokyo, Paris. Darüber hinaus nahm sie an zahlreichen Gruppenausstellungen in Brasilien und im Ausland teil, u. a. im Palais de Tokyo, Paris oder in der Fondation Cartier, Lille. 2022 war Solange Pessoa auf der Biennale di Venezia vertreten.